Kleine Rede an die besorgten Bürger im Herbst des Jahres 2015

Es ist kurz nach sechs Uhr morgens. Seit etwas über einer Stunde liege ich wach und es entstanden große Teile des folgenden Textes in meinem Kopf. Jetzt sitze ich im Büro und schreibe ihn, während draußen ein gar nicht so kalter Herbstwind bläst.
Ich gebe mich nicht der Illusion hin, dass der Text irgend wen überzeugt. Es scheint mir aber, dass das, was er sagt, mal raus muss.
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Liebe besorgte Bürger,

ich setze euch nicht in Anführungszeichen, denn ihr habt Recht. Ihr solltet euch Sorgen machen.

Ihr solltet euch Sorgen darüber machen, dass ihr in einer Welt lebt, die nicht einfach ist, in einer Welt, in der jeder Schein-Luxus, den ihr euch gönnt, anderswo auf der Welt Armut, Unbildung, Ungerechtigkeit, Umweltverschmutzung oder Gewalt erzeugt. Denn alles, was ihr habt, was andere nicht haben... haben sie nicht mehr.

Ihr solltet euch Sorgen machen um die Gerechtigkeit und Bildung anderswo. Wenn ihr im japanischen Auto zum Klamottendiscouter fahrt, weil auf eurem in Kalifornien designten aber in China gebauten Smartphone ein Sonderangebot aufblinkt, um ein T-Shirt zu kaufen, das irgendwo in Bangladesh oder Pakistan Kinder zusammengenäht haben, dann trägt das nicht dazu bei, dass diese Kinder zur Schule gehen.

Ihr solltet euch Sorgen machen um Gift und Umwelt und euer Essen.
Wenn ihr im Supermarkt immer das billigste Essen und "schönste" Obst und Gemüse kauft, dann trägt das nicht dazu bei, dass Bauern in Europa oder sonstwo für ihre Arbeit gerecht bezahlt werden, kein Gift und keine Antibiotika ins Essen kommen und Landwirte sich das teure patentierte Saatgut, das für Massenproduktion geeignet ist, noch leisten können. Das produziert Hunger und Krankheit, Arbeitslosigkeit und Versteppung.

Ihr solltet euch Sorgen machen um diesen Staat und die Demokratie.
Wenn ihr eure Informationen aus Zeitungen mit großen Buchstaben bezieht aus denen das Blut tropft und aus Nachrichtensendungen, die euch nahelegen, dass, egal ob ihr wählt oder nicht, "die da oben" doch machen, was sie wollen; wenn ihr also gar nicht wählen geht, euch nicht zwischendurch beteiligt und dann sagt, man höre euch nicht, dann trägt das nicht dazu bei, dass die Politiker außer ein paar Wochen vor den Wahlen in den Dialog mit euch treten und zuhören. Demokratie darf nicht nur in Wahlkabinen und in Wahlwerbespots stattfinden. Sie hat ganzjährig Saison.

Ihr solltet euch Sorgen machen, wenn ihr die Namen von euren Nachbarn, über, unter, rechts und links von euch nicht kennt; wenn im Haus und in der Straße keiner lächelt und grüßt; wenn der Satz "Kann ich Ihnen helfen?" oder "Bitte nehmen Sie meinen Sitzplatz." nicht fällt. Wenn euch außer eurer Fernbedienung und euren Saufkumpels keiner vermissen würde, wenn ihr morgen nicht mehr da seid.

Ihr solltet euch Sorgen machen, wenn ihr glaubt, die Welt nicht mehr zu verstehen, wenn ihr das Gefühl habt, nichts ändern zu können und nur Figur in einem riesigen Verschwörungs-Schachspiel zu sein. Ihr solltet euch Sorgen machen, wenn ihr es euch zu einfach macht, denn, ich erwähnte es, die Welt ist und bleibt kompliziert. In der Welt hängt alles mit allem zusammen und darum solltet ihr euch sorgen.

Ihr solltet euch Sorgen machen, wenn die Demonstrationen, Umzüge und Zusammenrottungen, bei denen ihr mitlauft oder zumindest vor dem Fernseher zustimmend denkt: "Endlich macht mal einer was.", wenn also diese Anlässe von Leuten angeregt und gesteuert werden, deren Werte denen entsprechen, auf denen 1933 bis 1945 auf deutschem Boden ein Unrechts- und Gewaltstaat gegründet war, der unsägliches Leid über Deutsche, Europäer und Menschen in aller Welt gebracht hat. Diese Leute glauben, dass Ungleichheit der Gleichen die Lösung für alles ist und sie wünschen sich eine solche Lösung zurück. Sie wünschen sich Gewalt und Ungerechtigkeit zurück. Und dafür versuchen sie zuerst die Straße und dann die Paläste zu erobern. Jeder Schritt, den sie tun, ist einer in die Falsche Richtung. Einer hin zu Tod und Leid. Menschen überall auf der Welt haben gekämpft und sind gestorben, um diesem Staat und seinen verbündeten Einhalt zu gebieten, jedes menschenfeindliche "Man wird doch noch sagen dürfen" spuckt auf die Gräber jener, die für Menschlichkeit und Frieden gestorben sind.

Von mir aus könnt ihr stolz sein. Auch wenn Stolz eine Todsünde sein soll und auch wenn Schopenhauer einmal erklärt hat, dass nur, wer sonst auf sonst nichts stolz sein kann auf das stolz ist, was ihm keiner nehmen kann: seine Nation.

Wenn ihr also nicht stolz seid darauf ein Gedichte von Goethe, Schiller, Heine oder Heinz Erhardt auswendig zu können; wenn ihr nicht stolz auf die Dankbarkeit seid, die euch andere entgegenbringen, weil ihr ihnen täglich helft; wenn ihr nicht stolz seid, dass ihr eure Kinder zu selbstbewussten, mündigen und gebildeten und glücklichen Bürgern erzogen habt; wenn ihr nicht stolz darauf seid, das, was ihr wisst und könnt, zum Nutzen von euch, eurer Familie, eurer Gemeinde und Stadt, eurem Land und der Welt einzusetzen, dann seid von mir aus stolz auf Deutschland:

Auf das Land, dessen Kultur sich nicht in Bierbrauerei und Fußballmanagement erschöpft sondern das auch Heimat war für den unbekannten Dichter des Nibelungenlieds, für Walther von der Vogelweide, Wolfram von Eschenbach, den Fuggern, Hartmann von Aue, Hildegard von Bingen, Grimmelshausen, Kant, Hegel, Feuerbach, Marx, Rosa Luxemburg, Bertha von Suttner [Anm: Ok, die war eine in Prag geborene Österreicherin, aber ich brauch noch mehr Frauen für diese Liste, also bitte Feedback - hier kommen sie:], Else Lasker-Schüler, Käthe Kollwitz, Käthe Kruse, Gabriele Münter, Annette von Droste-Hülshoff, Goethe, Schiller, Heine, Jean Paul, Kurt Hahn, Gottlieb Daimler und Carl Benz, Einstein, Thomas Mann und vielen vielen andren.

Seid von mir aus stolz auf ein Land, das sich von einem Flickenteppich aus Fürstentümern zu einem einigen, rechtsstaatlichen und demokratischen Gebilde gemausert hat.  Auf ein Land, das sich aus den Trümmern der Zerstörung, die der Gewalt- und Unrechtsstaat angerichtet hat, erhoben hat und beschlossen hat, dass in seinen Grenzen niemand mehr an Obdachlosigkeit, Hunger, Durst oder Unbildung leiden müssen soll und das es sich zum Prinzip gemacht hat, dass von seinem Boden nie mehr Gewalt und Ungerechtigkeit über Europa und die Welt kommen soll; das beschlossen hat, aus der Zeit der Verfolgung und Gewalt zu lernen und zu sagen: Wer immer aus Angst um Leben und Freiheit vor Krieg und Verfolgung flieht, der findet in unserem Land Aufnahme und Schutz.

Darauf, ja, darauf könnt ihr meinetwegen stolz sein, wenn ihr nichts anders habt, auf das ihr stolz sein könnt.

Wenn ihr auf das, was an Deutschland schön, mutig, geistvoll und gerecht ist, aber nicht stolz sein mögt, dann ist dies vielleicht nicht das richtige Land für euch. Dann solltet ihr vielleicht ein Land suchen oder gründen, in dem sich nur jeder selbst der Nächste ist und sich für besser hält als seien Mitmenschen, in dem sich jeder Niedergeschlagene für ein Opfer hält, der sich mit Gewalt das vom anderen nehmen kann, das er zu verdienen meint. Ich fürchte aber zweierlei: Dass es dieses Land nicht gibt, und dass es, wenn es es gäbe, nicht funktionieren würde, und dass ihr fliehen müsstet. Ihr seid zu Hause stets willkommen.

Sorgen könnt ihr euch also; und stolz sein, liebe besorgte Bürger. Das ist beides okay.

Ihr könntet aber auch etwas tun.

Ihr könnt euren Nachbarn anlächeln, grüßen und ihm eure Hilfe anbieten, wenn er sie braucht.

Ihr könnt nicht immer das Billigste kaufen sondern das Gute.
Das Gute ist das, wo Menschen Dinge und Nahrung mit Liebe herstellen und dafür eine gerechte Bezahlung erhalten, die es ihnen ermöglicht, ihre Kinder zur Schule statt zur Arbeit - oder auf die Straße - zu schicken. Die es ihnen ermöglicht, Tiere ohne Leid zu halten und Getreide und Gemüse ohne patentierte Gentechnik aufzuziehen in der Nähe der Orte, wo die Produkte auch gebraucht werden und ohne dabei Verlust zu machen.

Ihr könnt mit anderen so umgehen, wie ihr wünschen würdet, dass mit euch umgegangen würde - im Alltag und falls ihr in Not geratet.

Verantwortung, sagte Joachim Gauck ein paar Tage vor seiner Wahl als Bundespräsident in einer Rede, bei der ich anwesend war und die mich beeindruckt hat, Verantwortung ist die Freiheit des Erwachsenen.
Eine Freiheit, die man hat und nicht nutzt ist die größte Verschwendung.

Ihr könnt also Kopf, Herz und Hand so einsetzen, dass ihr eurem Umfeld nützt: euch, eurer Familie und Freunden, Straße, Wohnort, Kreis, Land, ... allen, die in Not sind und es brauchen, allen, deren Leben etwas besser sein könnte und nicht so gut ist, wie eures. So, dass ihr ein dankbares Lächeln erntet und Grund habt, stolz zu sein; oder euch geehrt fühlt zumindest. So dass etwas fehlt, wenn ihr weg seid - und euer Vorbild bleibt.

Darum, liebe besorgte Bürger, lohnt es sich zu sorgen; dafür, liebe besorgte Bürger, lohnt es sich, Sorge zu tragen:

Sorge um das Tun für eine Welt, die morgen besser ist als heute.

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Freue mich über Anregung zur Erweiterung der Namenslisten, v.a. der weiblichen; die aktuelle sind einfach ein Brainstorming morgens um 5.
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