“Ich kenn mich aus!” oder Fünf Arten, das Social Web misszuverstehen (Social-Web-Irrtümer 2)


Social Web ist einfach. Twitter 140 Zeichen, und los. Blog. Text eintippen, Bild dazu und gut. Facebook: ein Witz. XING? Für ein Adressverzeichnis braucht man doch keine Anleitung, und auch keinen Kurs oder Workshop. Das kann doch jeder!

Ja, es ist richtig: Das “Web 2.0” zeichnet sich dadurch aus, dass es einfach ist, als de Jonglage mit Telnet, FTP, HTML 1.0 oder 5.0, CSS, Java, Python oder PHP und MySQL. es ist ein Teil der Bemühung vieler Netzveteranen, das Netz nicht zu einer Horchstation für Geheimdienste sondern zur Austauschplattform für demokratische Gesellschaften zu machen. Oder gar: für eine einzige globale demokratische (Wissens-)Gesellschaft. Und: Es soll solche unter uns geben, die nicht trotz sondern gerade wegen Edward Snowden an dieser Vision (Hier der Gruß posthum an Altbundeskanzer Schmidt.) festhalten.

Damit das Netz so funktionieren konnte, musste es aus der Hand der Techniker in die Hand der Jugendlichen, Erwachsenen Senioren gegeben werden. Aus der Hand der Männer in die der Frauen und aus der Hand der Akademiker in die der Handwerker.

Nun ist es so, dass nicht alles, was einfach aussieht, auch einfach ist.

„Jede hinreichend fortschrittliche Technologie ist von Magie nicht zu unterscheiden.“ Sagte Arthur C. Clarke. Mit anderen Worten: Sehr komplexe technische Gegenstände wirken an der Oberfläche sehr sehr einfach - sind aber unverständlich.

Dank Usability-Denke aber wirkt das Internet - oder sagen wir: der WWW-App-Komplex und besonders sein “Social-Ableger” (“sozial” heißt etwas anderes) - nicht nur einfach sondern auch verständlich. Für die meisten zumindest. Und wenn es mit dem Verständnis einmal nicht klappt, dann bastelt man sich eines zusammen, das zumindest die Nutzer des entsprechenden Kommunikationswerkzeugs abkanzelt. So hält sich stamm und eitern die Mär, Twitter sei nur dazu da, um mitzuteilen, dass und wann man Kaffee trinke und Facebook dazu, Mitschüler zu terrorisieren.

Das ist der erste Aspekt des “Ich kenn mich aus”-Irrtums, der, ähnlich wie der Digital-Native-Irrtum (Folge 1) primär dazu dient, damit man sich nicht mit noch einer Neuerung ernsthaft befassen muss.

Die zweite Form des “Ich-kenn-mich-aus-Irrtums” ist der Generalisierungsirrtum: “So wie ich ein Werkzeug benutze, so ist es richtig. wer es anders benutzt, ist irgendwie doof.” So wird man durchaus von Menschen, die einem ohne Angabe von Gründen als XING-Kontant anfragen durchaus auch mal der Zeitverschwendung bezichtigt, wenn man sie bittet, doch zu erklären, wozu der Kontakt denn dienen solle. Der Kontanktvermehrung natürlich. Als ob das automatisch schon Umsatz -oder gar Gewinn- generiere. Während die einen Twitter als “Kuschelkanal zum Leerlesen” sehen und deshalb niemals mehr als 150 Leuten followen wollen, streuen die anderen damit ihre Bloglinks und verstehen nicht, was es wohl bringt, geistreiche Bonmots zu verfassen und sich damit einen Fanschwarm zu erzeugen.

Die dritte Form ist der Begriffsirrtum. Der tritt ein, wenn sich jemand aufgrund seiner bisherigen Erfahrung ein Bild davon gemacht hat, was etwas bedeute und sich gar nicht mehr vorstellen kann, dass er sich irren könnte. So konnte man in einem Webinar von jemand, der sich primär mit Mailmarketing befasst, hören, dass Weblogs gar nicht “Social Media” seien, da man ja nur solche Dinge wie Twitter und Facebook darunter verstehe. Gut erkannt war, dass Blogs und Facebook verschieden funktionieren. Der Rest des Fachurteils fiel dann in die Social-Network-Begriffsfalle. Wobei Twitter nicht mal ein Social Network ist - oder höchtens teilweise wie eines benutzt werden kann. Siehe oben. Ähnliche Begriffsfallen tun sich bei Pull- und Content-Marketing, Social Media Marketing generell, Blogger Relations, beim begriff "Web 3.0" sowieso und an vielen anderen Stellen auf. Selbst SEO ist wohl bald nicht mal mehr SEO.

Dann gibt es noch die vierte Art der Irrtümer, die einfach aus einer Kombination von Vorurteil und mangelnder Beschäftigung mit einer Kommunikationsweise oder einem Kommunikationswerkzeug erwachsen. E-Mail und Chat haben diesen Weg durch das Tal der Irrtümer durchwandert. Während anfanngs nur der Chef (oder seine Ausdruckbeauftragte) E-Mail hatte, weil ja im Blick behalten werden musste, was da so gemailt wird, wurde Mail irgendwann zum Werkzeug für jeden Mitarbeiter. Chat galt lange als Zeitverschwendung, bis IBM mit Samtetime (und andere mit anderen Corporate Tools) 500 Emails durch 20 Chatfenster ersetzten. Inzwischen wird intern getwittert, padon, microgemessaged. Gerade Twitter leidet unter dieser Art Scheinverständnis immer noch, aber auch XING, das eben ein Networking-Tool und keine reine Adressammlung ist, auch.

Ein bisschen verwandt mit der vierten ist die fünfte Art: Der Verfahrensirrtum. Heißt: Der Irrtum, der denkt, es sei richtig, auf ein bestimmte Art von Ereignis auf eine ganz bestimmte Art zu reagieren. Unflätiger Kommentar? Löschen. Unflätiger Kommentar? Kontra geben! Sinnleere XING-Kontantanfrage: erstmal ablehnen - gar nicht erst fragen. Spammail? Abmelden oder löschen - anstatt sie als Spam zu markieren und dem System ein Lernen zu ermöglichen.

Hilft etwas aus dieser “Matrix der Illusionen”?

Eine Erkenntnis zu gewinnen, sagte einer meiner Professoren immer, ohne dass ich je herausgefunden hätte, ob er da jemanden zitiert, eine Erkenntnis zu gewinnen also, heiße, eine Illusion zu verlieren. Sozusagen die Drähte hinter der “Magie” zu entdecken.

Wenn ich also auf etwas stoße, das ich nicht kenne, und sich mir dessen Wert entweder nicht erschließt oder gar nicht gegeben erscheint, dann frage ich. Denn dumm bleiben, will ich ja nicht. Und wenn man sich auch nur ein kleines Netzwerk an Gleichgesinnten aufgebaut hat, oder Foren aufsucht, in denen eben solche “seltsamen Dinge” diskutiert werden, dann bekommt man auch auf die abgelegensten Fragen eine Antwort.

Jetzt fehlt nur noch die Selbsterkenntnis, dass man im Bezug auf einen Social-Web-Kanal einen Irrtumsbeseitigungsbedarf (sorry) hat. Ein kleiner Indikator ist sicher, dass man sich mal fragt, warum andere einen solchen Kanal offenbar begeistert oder gar profitabel nutzen und nur man selbst noch keine Ahnung hat, was das bringen soll.

Also: AUF!

Und: stellen Sie Ihre Fragen ruhig auch hier in den Kommentaren. Ich lotse dann gern jemand her, der sie beantwortet - oder versuche gern selbst eine.

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